Dr. Kristina Saumweber (43) leitet die Interdisziplinäre Frühförderstelle beim Caritasverband in Freyung-Grafenau seit 2013. Die promovierte Erziehungswissenschaftlerin ist Mutter zweier Söhne und einer Tochter. Sie lebt mit ihrer Familie in Grafenau.
Frau Dr. Saumweber, Sie sind als Fachgebietsleitung der Interdisziplinären Frühförderstelle seit 7 Wochen im Home-Office, wie geht es Ihnen?
KS: Danke, soweit gut. Die letzten Wochen waren allerdings schon sehr anstrengend. Es ist nicht einfach, ein Fachgebiet von 100% auf null herunterzufahren. Als Frühförderstelle waren wir genauso wie die Kitas und Schulen von der Schließung betroffen. Von heute auf morgen mussten wir uns völlig neue Wege überlegen, wie wir unsere Familien betreuen können. Schließlich ist es ja nicht so, dass mit der Schließung der Einrichtung auch der Bedarf nach Hilfe geschlossen werden kann. Aktuell arbeiten wir intensiv daran, die Eltern gut in ihrem Alltag zu unterstützen und haben eine enge Kooperation mit den Kollegen aus der Jugendhilfe.
Sie sind selbst Mutter dreier Kinder. Wie erleben Sie die Schließung der Kitas und Schulen?
KS: Ich habe das Glück, dass ich einerseits von meinem Arbeitgeber schon seit Jahren die Möglichkeit des Home-Office eingeräumt bekommen habe. Das hat mir in der Vergangenheit ermöglicht, Arbeit und Familie zu vereinbaren und ist im Moment ein großer Vorteil, weil ich schon Übung habe. Trotzdem ist es eine große Herausforderung, drei Kinder vom Vorschulalter bis ins Gymnasium im Homeschooling zu betreuen und nebenher ein Fachgebiet mit 25 Mitarbeitern und über 300 zu betreuenden Familien zu führen.
In den letzten Tagen wurde in Medien und Politik zunehmend auch über die sich zuspitzende Situation von Familien mit Kindern diskutiert.
KS: Ich beobachte, dass sich die Stoßrichtung der Diskussion verändert hat. Zunächst wurde ja im Wesentlichen darüber nachgedacht, dass Eltern nun nicht mehr arbeiten gehen können und ob Kinder das Krankheitsgeschehen massiv beeinflussen, sprich Risikogruppen gefährden. Mir ist wichtig, dass nun auch Fragen der sozial-emotionalen Entwicklung und des Kindeswohls in den Fokus rücken.
Inwiefern ist das wichtig?
KS: Der Lockdown wurde zunächst aus den offensichtlichen Richtungen betrachtet. Wenn Läden zu sind, Menschen um ihre Existenz bangen, Ärzte und Pfleger am Limit arbeiten und Erkrankte sterben, dann ist das unmittelbar sichtbar und relevant. Wie sich die Dynamik in Familien entwickelt, die ja mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen in diese Krise katapultiert werden, ist eine Frage, die erst einmal nicht so offensichtlich ist. Auch die Auswirkungen des Shut-Downs auf Familien sind zunächst nicht sichtbar. Allerdings werden uns die Folgen monatelanger Isolation gesellschaftlich sicher noch lang beschäftigen. Wie und ob diese ganz andere Welle abgefangen wird und ob hier dann auch das Interesse von Politik und Gesellschaft genauso groß ist, Gelder für die Schadensbegrenzung bereitzustellen, ist derzeit noch völlig offen.
Welche Schäden können denn entstehen?
KS: Zum einen wirkt sich die Krise sehr dynamisch auf alle Familiensysteme aus. Das betrifft alle, vom Einzelkind, das nun niemanden mehr zum Spielen hat, über die alleinerziehende Mutter mit Zwillingen im Kleinkindalter, die am Ende ihrer Kräfte ist, bis hin zu den Familien, die ihre Existenz verlieren, um nur einige Beispiele zu nennen. Das ist ein echter Stresstest für alle Familien, auch deshalb, weil viele Entlastungs- und Unterstützungsmöglichkeiten aktuell nicht möglich sind. Kinder dürfen nicht zu ihren Großeltern, Kitas und Schulen sind geschlossen, aber auch der Kaffee mit der besten Freundin oder der Grillabend mit den Nachbarn fallen flach. Da brechen ganz viele Kleinigkeiten weg, die für den Mensch als soziales Wesen wichtig sind.
Zum anderen darf man nicht unterschätzen, welchen großen Beitrag Pädagogen und Sozialarbeiter täglich für das soziale Miteinander leisten. Die Kita ist ja nicht nur ein Ort, wo man sein Kind hinbringt, damit man arbeiten gehen kann. In der Schule wird den Kindern nicht nur Unterrichtsstoff vermittelt. Und ich selbst habe in den letzten Jahren immer wieder Diskussionen darüber geführt, ob Inklusion auch ein Begriff ist, der die zunehmenden Fallzahlen von Kindern mit Defiziten in der Sozialentwicklung umfasst.
Der Mensch als soziales Wesen, ist das also die Erkenntnis aus der Krise?
KS: Aus meiner Perspektive auf jeden Fall! Wir alle sind soziale Wesen. Auch wir Erwachsenen merken, wie sehr uns unser Alltag fehlt, die persönlichen Begegnungen, der Kontakt mit Freunden, gemeinsame Urlaube. Kinder sind davon ungleich härter getroffen. Sie sind in ihrer Entwicklung auf soziale Situationen angewiesen, sie brauchen Körperkontakt und Nähe. Sie brauchen auch ihre Erzieher und Lehrer, die ihnen Orientierung geben, sie in komplexen und vielfältigen Lernprozessen unterstützen und sie brauchen andere Kinder, mit denen sie spielen und lernen können. Unsere Bildungseinrichtungen und die Sozialverbände leisten hier einen unverzichtbaren Beitrag zur Sozialentwicklung und damit letztlich zu einer gesunden Gesellschaft.
Also plädieren Sie für eine rasche Öffnung der Betreuungs- und Bildungseinrichtungen?
KS: Unser Problem ist, dass wir im Moment alle Teil eines weltweiten Live-Experiments sind. Sicher wird es im Nachhinein viele kluge Leute geben, die genau sagen können, was richtig war und was nicht. Die Datenlage zum Infektionsrisiko ist uneinheitlich und wird aktuell sehr emotional diskutiert.
Sicher sagen kann ich, dass es grober Unfug ist zu meinen, dass in Kindertagesstätten oder Grundschulen die derzeit geltenden Hygieneempfehlungen für die Kinder umsetzbar sind. Jeder, der schon einmal mit einem Kind gespielt hat, weiß, dass der Umgang mit Kindern zwangsläufig körperliche Nähe mit sich bringt und man einem Dreijährigen keine Maske aufsetzen kann. Aktuell deutet einiges darauf hin, dass jüngere Kinder seltener erkranken und die Krankheit auch seltener übertragen. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass eine Öffnung der Kitas und Schulen womöglich zuallerst einmal die Pädagoginnenn dort einem Infektionsrisiko aussetzt. Nach aktueller Studienlage ist es wahrscheinlich sogar wichtiger, dass im Rahmen von Öffnungen vorrangig die Erwachsenen untereinander versuchen, neue Infektionsketten zu vermeiden. In unserem Fall wäre das zum Beispiel so, dass ich ein Kind zur Förderung lieber in die Außenstelle einbestelle als einen Hausbesuch zu machen, wenn der Opa mit im Haushalt lebt. Auch Lehrer müssten zum Beispiel sicherstellen, dass sie sich nicht untereinander anstecken. In der ganzen Diskussion überhaupt noch nicht bedacht wurden übrigens Kinder mit einer Behinderung, die genauso ein Recht auf Bildung und soziale Teilhabe haben. Wie bei den anderen Risikogruppen auch kann es nicht die Lösung sein, diese Menschen bis zur Bereitstellung eines Impfstoffes in die völlige Isolation zu schicken.
Ich fände es angemessen und richtig, die Erzieherinnen, Sozialarbeiterinnen und Lehrerinnen in die Diskussion mit einzubeziehen und dann nach Lösungen zu suchen, die eine Betreuung für alle Beteiligten verantwortlich tragbar macht. Es ist ja wahrscheinlich, dass wir Modelle brauchen, die sehr flexibel und längerfristig praktikabel sein müssen. Vielleicht ist es an der Zeit, Kinderbetreuung und Schule ganz neu zu denken.
Was sollten wir aus der Krise lernen?
KS: Ich plädiere dafür, weiterhin gemeinsam über verantwortungsvolle Lösungen zu diskutieren. Ich finde es wichtig, Erkenntnisse aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zusammenzubringen und dann nach praktikablen Kompromissen zu suchen. Das ist Teil des demokratischen Prozesses. In der Coronakrise waren bislang die Mediziner und Ökonomen sehr präsent, nun ist es an der Zeit, dass sich auch Disziplinen wie die Psychologie und Sozialwissenschaften Gehör verschaffen und die vorhandenen Erkenntnisse über das Funktionieren von menschlicher Entwicklung und Sozialverhalten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Wir haben in unserer Gesellschaft ein Recht auf Bildung und Teilhabe. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Pandemie eine psychosozial beschädigte Gesellschaft und eine Beschädigung des Kindeswohls hinterlässt. Hier sind auch die großen Sozialverbände wie die Caritas gefragt.
Persönlich wünsche ich mir, dass die Wertschätzung für die vielen Berufe, die in „normalen Zeiten“ oft im Hintergrund agieren, bleibt. Ich denke, gerade Familien mit Kindern haben in den letzten Wochen noch einmal einen anderen Blick dafür bekommen, was Erzieherinnen, Lehrerinnen und Sozialarbeiterinnen Tag für Tag leisten. Aber auch der Blick für die Familien und was diese alles tagein, tagaus stemmen, sollte uns erhalten bleiben.
Vielen Dank für das Gespräch.