Jack mag keine Vorurteile. Der 18-jährige aus der norditailenischen Stadt Schio bildet sich lieber selbst ein Bild von anderen Kulturen. Er ist einer von 25 Teilnehmern an der „SommerAKTIVerstität“ des Bezirks Niederbayern, einer internationalen Jugendbegegnung, die heuer vom 16. bis 27. September im Rahmen der Regionalpartnerschaft des Bezirks unter dem Titel „Wurzeln und Wege kultureller Vielfalt“ in der Volksmusikakademie in Freyung stattfindet. „Über die Rumänen etwa hört man bei uns viel Schlechtes, aber ich finde die alle total nett hier“, sagt Jack und deutet auf eine kleine Gruppe nebenan.
Aus Frankreich, Rumänien, Italien und Deutschland kommen die Jugendlichen zwischen 16 und 27 Jahren und z. B. an Tag 7 steht ein Tanzworkshop auf dem Programm. Um 9.30 Uhr sollen sich alle im „Schwarzen Bua“ einfinden, um 9.55 Uhr kommt der Letzte schlürfend herein. Die Gesichter verraten, dass die Nacht zuvor länger geworden ist. Kursleiter Josef Eder versucht erst gar nicht zu verbergen, dass er genervt ist. Immerhin ist er ein international sehr erfolgreicher Choreograf. Durch seine Arbeit mit ganz unterschiedlichen Kinder und Jugendlichen, vor allem aus sozial schwierigen Verhältnissen, scheint er aber einiges gewohnt zu sein. Sein Ziel: Die jungen Leute aus ihrer Komfort-Zone zu locken, damit sie was mitnehmen von dem zweitägigen Workshop – ein Gefühl, eine Erinnerung, etwas Bleibendes. Noch sitzen die aber dort wie festgewurzelt.
Erste Übung: Im Raum herumspazieren, wild, ungeordnet, ohne Struktur. Augenblicke einsammeln, den anderen wahrnehmen. Zweite Übung: Augen schließen, achtsam gehen, die Aura des anderen fühlen. Josef Eder, ein gebürtiger Hengersberger, ist der tiefen Überzeugung, dass wahre Begegnung mit Bewegung verknüpft ist und die Stimmung in der Gruppe gibt ihm schnell recht. Die Außenseiter, die sich eher am Rand aufhielten, rücken zunehmend in die Mitte. Die Schüchternen lachen, die Coolen wirken weniger angestrengt. Nun kommt flotte Elektromusik ins Spiel. Wenn sie abreißt, gibt Eder verschiedene Kommandos: „Princess!“ Zwei bilden ein Paar, der eine hebt den anderen hoch. Möglichst unterschiedliche Figuren will er sehen und vor allem: 100 Prozent Energie. Die hat er nun, gepaart mit der Präsenz der Jugendlichen, ihrer Körperspannung und der vollen Konzentration.
Auf Kommando schließen sich die Jugendlichen zu Formationen zusammen, egal welcher Herkunft und welchen Alters. Beim Abschlussabend sollen sie dann einen gemeinsamen Tanz präsentieren.
Nach zwei Stunden sind die Teilnehmer wie ausgewechselt. Statt müder Blicke erntet der Choreograf begeisterte Rückmeldungen. Nun hat er den Boden bestellt, um tatsächlich mit den Jugendlichen zu arbeiten. Zum Abschlussabend sollen sie einen eigenen Tanz, bestehend aus einzelnen Tanzschritten ihrer Heimatländer, aufführen. Doch das ist eigentlich nebensächlich. Viel wichtiger ist, was der Tanz mit den Teilnehmern macht. „Die Dynamik der Gruppe hat sich absolut verändert“, meint Jack. Es sei „faszinierend, welche Energie man freisetzt und wie man den anderen fühlen kann ohne ihn zu berühren“, sagt Zia, ein gebürtiger Afghane, der nun in Landshut lebt. Dragos, einer der Rumänen, die verspätet kamen, ist ehrlich: „Ich fands anfangs langweilig und dann super lustig. Heftige Energie im Raum.“
Für die Organisatoren der Aktiversität, der Bezirk Niederbayern und der Arbeitskreis für Schul- und Kommunalpartnerschaften Niederbayern, ist dies eine Bestätigung, das Programm gut gewählt zu haben. Denn die Teilnehmer finden auch die weiteren Projekte und Ausflüge spannend.
Alice aus Italien begründet ihre Teilnahme, die ihr von ihrer Schule vermittelt wurde, sogar mit: „Ich denke es war Schicksal, ich musste hier einfach her.“ Wenn sie am Freitag wieder ihre Heimreise antritt, wird sie mehr im Gepäck haben als bei ihrer Ankunft. Genau diese Erfahrungen seien für alle Menschen wichtig, für Jugendliche aber besonders, meint Josef Eder. Und ganz besonders machen solche Begegnungen und Bewegungen den jungen Menschen klar, dass von einem offenen Europa alle profitieren.
Die Teilnehmer des Tanzworkshops sehen das nun offenbar auch so. Die Mittagspause wird um eine halbe Stunde verkürzt – und diesmal kommen alle pünktlich.